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  • Die wahrhaftigste Genossin der Natur: Şehîd Elefteria Hambî


    Der 25. November ist der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Gleichzeitig ist es der sechste Jahrestag des Märtyrertodes von Şehîd Elefterîa Hambî. Um diesen bedeutenden Tag zu würdigen, präsentieren wir ein Interview mit der Genossin Viyan Kiçî, die in den freien Bergen Kurdistans eine enge Verbindung zu Şehîd Elefterîa hatte. Durch Şehîd Elefteria ehren wir alle revolutionären Frauen, die ihr Leben für die Freiheit und eine bessere Welt geopfert haben.

    Mein Name ist Viyan Kiçî. Als ich Heval Elefterîa zum ersten Mal traf, war ich in Garê Sêdarê (Südkurdistan), in einer gemischten Einheit. Das Guerillaleben in der Einheit in den Bergen ist bekannt: Es besteht hauptsächlich aus praktischen Aufgaben wie dem Bau von Höhlen, dem Kurierdienst, Schichten auf Berggipfeln, der Eroberung neuer Berggipfel und der Organisation der Logistik. Zu dieser Zeit gab es mehr als 20 Genossinnen und Genossen in unserer Einheit. In Garê Sêdarê traf ich Heval Elefteria, die zu uns kam, um ihre neuen Aufgaben zu übernehmen. Was mich am meisten berührte, als die Genossin zu uns kam, waren ihre Augen. Sie hatten einen tiefen Blauton. Außerdem hatte sie ein wunderschönes Lächeln. Als sie in den Bergen ankam, war sie voller Neugier, Liebe, Moral und Freude. Sie erregte nicht nur meine Aufmerksamkeit, sondern fiel auch allen anderen Genossinnen und Genossen durch ihr breites Lächeln auf. Als sie ankam, begrüßten sie sie und machten sich sofort daran, Tee und Essen zuzubereiten. Aber es war, als hätte Heval Elefteria schon seit Jahren bei uns gelebt; sie bereitete das Wasser für den Tee selbst zu. Sie integrierte sich sehr schnell in unser Leben und passte sich mühelos an. Zunächst beobachtete sie ihre Genossinnen und Genossen genau und lernte sie alle besser kennen, aber sie gewann schnell einen Platz in ihren Herzen. Mit ihren strahlenden Augen und ihrem Lächeln brachte sie ihnen Freude. Wir lebten zusammen in der Einheit. Die Anzahl der Genossinnen und Genossen änderte sich ständig, aber wir Frauen waren immer in der Überzahl. Wir verrichteten rund um die Uhr, Tag und Nacht, praktische Arbeit. Über unserem Standort kreiste ständig eine Drohne, und unsere Möglichkeiten waren drastisch eingeschränkt; das Guerillaleben hatte sich verändert. Wir mussten uns an diese Veränderungen anpassen. Es war notwendig, Tag und Nacht unser Bestes zu geben.

    Heval Elefteria kam mit Erfahrung aus Deutschland, als sie die Bergen erstmals erreichte. Während unseres täglichen Zusammenlebens sprach sie mit uns und erzählte uns viel, insbesondere Geschichten über ihr Leben im Wald. Sie hatte immer im Wald gelebt und gegen die staatliche Gewalt gekämpft, die die Umwelt ihrer Heimat bedrohte. Sie war eine Rebellin und hatte in dieser Hinsicht immer radikal gehandelt. Deshalb hatte sie die Stadt verlassen; seitdem lebte sie im Wald und war eins mit der Natur – sie kannte jede Pflanze. Sie sah alles auf eine ganz besondere Weise: ihre Interaktionen mit den Pflanzen und ihre Liebe zu den Tieren. Wenn sie ein Tier sah, schaute sie es an, aber ihre Herangehensweise war wirklich einzigartig. Heval Elefteria fühlte sich sehr verbunden zur Natur. Aus diesen Gründen hatte sie kaum Schwierigkeiten im Guerillaleben. Ihre schöne Verbindung zur Natur war ein Teil von ihr, und dafür gab es viele Beispiele. Eines Tages sammelte und aß Elefteria, anstatt auf den Weg aufzupassen, verschiedene Pflanzen – so groß war ihre Liebe zur Natur. Wenn wir versehentlich eine Pflanze abschnitten, wurde sie sehr wütend, weil sie es nicht ertragen konnte. Sie verteidigte immer die Natur und hatte sehr intensive Gefühle zu ihr.

    Nachdem sie einige Zeit in den Bergen verbracht hatte, wurde ihre Haltung als Guerillera immer klarer: ihre Genossenschaft, ihre Interaktionen, ihre Liebe, ihre Verbundenheit mit den Ideen von Rêber Apo (Abdullah Öcalan, dem ideologischen Vorreiter der kurdischen Freiheitsbewegung) und ihre Identität als Frau. Tag für Tag wurde sie stärker. Als sie sich der Einheit anschloss, stieß sie nicht auf viele Schwierigkeiten, aber natürlich sind alle Genossinnen und Genossen mit Herausforderungen konfrontiert, ob sie wollen oder nicht. Vor allem, wenn es um Austausch, Haltung und das Leben im Allgemeinen geht, muss man sich sehr anstrengen, wenn man lernen will. Aber mit jedem Tag, den Heval Elefteria voranschritt, leuchteten ihre Augen heller und heller. Ihre Gespräche und ihre Genossenschaftlichkeit wurden tiefgründiger. Die GenossInnen versammelten sich um sie herum, während sie ein Gemeinschaftsgefühl schuf. Sie entwickelte ihre Sprache, bis sie sich vollständig ausdrücken konnte. Sie las viele Schriften von Rêber Apo und diskutierte sie mit den GenossInnen. Sie sprach über die Schwierigkeiten, die sie erlebte. Sie konnte alles mitteilen, was sie fühlte. Dadurch passte sie sich sehr schnell an und fand ihren Platz in den Herzen der GenossInnen und sie formte ihre Persönlichkeit. Ich würde sagen, dass sie in der Einheit ein Vorbild war, da sie aus Deutschland gekommen war, um in den Bergen Kurdistans Widerstand zu leisten. Sie war Tausende von Kilometern gereist, um Rojava zu erreichen, hatte an der Revolution teilgenommen und sie mit eigenen Augen gesehen. Das hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf sie. Als Frau verfolgte sie stets das von ihr gewählte Ziel. Kurdinnen, Araberinnen und Frauen aus vielen verschiedenen Nationen in Rojava kämpften gemeinsam gegen den IS und prägten die Revolution. Heval Elefteria war tief beeindruckt von diesen Frauen und bewegt von der Revolution. Sie leistete weiter Widerstand, bis sie die Berge erreichte.

    Als sie in die Berge kam, konnte sie sie sehen. Sie fühlte sich eins mit der Natur und hatte eine sehr natürliche Energie. Wenn man an Heval Elefteria denkt, kommt einem sofort die Natur in den Sinn. Tatsächlich ging es so weit, dass wir darüber scherzten, wieso sie nicht den Namen „Xweza” (Natur) gewählt hatte. Durch den Einfluss der Revolution und der Berge fand sie ihren Platz in der Welt. Sie sagte oft: „Ich wünschte, ich wäre viel früher gekommen.” Natürlich hatte sie auch Schwierigkeiten, aber sie teilte alles. Denn ist es nicht einfach, Tausende von Kilometern zu reisen, den Mittleren Osten zu durchqueren und Orte zu erreichen, an denen ständig Krieg herrscht – ein See aus Blut, ein Ort des ständigen Tötens und Völkermords. Ob man es mag oder nicht, von außen gibt es viele negative Vorstellungen von dieser Region. Aber Kurdistan ist auch ein Ort der Kultur und Kunst, und die Menschen dort haben schon immer eine wichtige Rolle in Kämpfen und Widerständen gespielt. Sie hatte sich zuvor an Aktionen und Aufständen beteiligt. Als sie in den Bergen ankam, tat sie dies mit offenem Geist. Sie stellte sich ihren Ängsten und Schmerzen direkt; sie sah sie nie als Hindernisse an. Ihre Gedanken, insbesondere in Bezug auf ökologische Bewegungen, waren schön tiefgründig. Sie schrieb mehrmals über diese Dinge und teilte sie mit uns. Mit der Zeit wollte sie verschiedene Schritte unternehmen, um Dinge zu organisieren, die Ideen von Rêber Apo zu verbreiten und die Frauenfreiheitsbewegung zu stärken. Sie hatte immer Ziele für die Zukunft. Während unserer Diskussionen und Gespräche teilten wir unsere Ansichten mit ihr. Was ich besonders über ihre Persönlichkeit sagen kann, ist, dass sie immer eine liebevolle Genossin war. Heval Elefteria war sehr klar denkend – sie schwankte nie zwischen dem rechten und dem linken Weg, noch zwischen Handeln und Nicht-Handeln. Sie war sehr selbstbewusst und entschlossen. Wenn sie etwas nicht akzeptierte, konnten sie nicht einmal tausend GenossInnen überzeugen. Selbst wenn negative Ergebnisse eintraten, kam ihre starke Persönlichkeit zum Vorschein.

    Sie konnte schwere Lasten tragen. Als wir beispielsweise sehr schwierige Zeiten durchlebten und vier oder fünf Drohnen ständig über unserem Gebiet kreisten, ging Heval Elefteria zu den Genossinnen, die für die Logistik zuständig waren, um sie zu unterstützen. Wegen der Drohnen mussten sie den größten Teil ihrer Arbeit nachts verrichten. Sie erklärte sich freiwillig bereit, diese Aufgaben zu übernehmen. Eigentlich wollte ich, dass sie in den Höhlen blieb – vielleicht wäre es draußen zu schwierig für sie, vielleicht würde sie sich drinnen wohler fühlen. Als Genossin, die aus Europa kam, mussten wir besonders darauf achten, sie zu schützen. Wir wollten uns um sie kümmern. Zuerst brachten wir sie in die Höhle, aber nach ein paar Tagen hielt sie es nicht mehr aus. Sie sagte: „Heval, ich möchte gehen und die Logistik übernehmen. Ich möchte lernen, wie man unter der Drohne arbeitet. Ich kann diese Last tragen. Ich weiß, dass ich den Feind bekämpfen kann.“ Für sie war es wie eine Aktion, draußen zu arbeiten und sich unter der Drohne bis zum Tunnel zu bewegen. Sie bestand darauf, sich dieser Gruppe anzuschließen. Wir versuchten alles – doch sie war entschlossen. Sie musste natürlich lernen, mit ihren Schwierigkeiten und der Last umzugehen. Sie war das nicht gewohnt. Bis dahin hatte sie noch nie so schwere Lasten über so lange Strecken getragen. Sie erzählte uns, dass sie manchmal auch die Logistik im Wald organisiert hat. Aber in der PKK-Bewegung, wo der Feind eine sehr reale und ständige Gefahr darstellt und eine umfassende Verteidigung notwendig ist, erfordert alles große Mühe. Heval Elefteria war damit nicht völlig fremd. Auch wenn sie in vielen Bereichen keine Erfahrung hatte, war das für sie kein Problem. Deshalb wollte sie sich durch Mühe weiterentwickeln – ihr Leben begann mit Mühe. Sich wirklich zu bemühen macht stark und lässt dich wachsen; durch Mühe lernst du. Auf ihre Initiative hin schloss sie sich der Logistikarbeit an.

    Sie übernahm wirklich eine Vorreiterrolle. Während die GenossInnen von morgens bis abends unterwegs waren, blieb sie die ganze Zeit wach. Sie machte keine Pausen, bis die Arbeit erledigt war. Sie arbeitete den ganzen Tag. Selbst wenn die Umstände die Fertigstellung der Logistik verhinderten – wenn alle GenossInnen müde waren, nichts gegessen hatten oder sich unwohl fühlten – setzte sie die Arbeit fort. Heval Elefteria war auch in diesem Bereich eine bemerkenswerte Vorreiterin. Sie wollte immer mehr lernen. Manchmal, wenn man sah, wie sie einen Stein betrachtete, merkte man, dass sie ihn auf eine ganz andere Weise sah und ihm eine ganz neue Bedeutung gab. Für sie war alles lebendig. Heval Elefteria wurde zu einem Vorbild für alle ihre GenossInnen. Während unserer Treffen wurde ihr Name oft als Beispiel genannt. Sie kämpfte auch und übernahm ganz selbstverständlich die Rolle einer Vorreiterin. Sie entwickelte sich schnell weiter, unterstützte die Genossinnen und Genossen und übernahm bei Bedarf ihre Aufgaben. Sie war entschlossen, einen Geist der Genossenschaftlichkeit zu fördern, und die anderen GenossInnen erkannten dies. Dadurch entstand eine tiefe Verbindung zwischen uns.

    Ein weiterer bemerkenswerter Aspekt ihres Charakters war ihre tiefe Verbundenheit mit Pflanzen und Kräutern – sie hatte eine besondere Vorliebe für Brennnesseln. Wenn man diese Pflanze berührt, sticht und brennt sie. Normalerweise ist das nicht leicht zu ertragen, aber manchmal verwenden GenossInnen sie als Medizin. Heval Elefteria sammelte diese Pflanzen jeden Tag in unserer Umgebung. Wann immer ich sie suchte, sammelte sie Brennnesseln wie eine Nomadin. Nomaden sind bekannt für ihre Verbundenheit mit der Natur, ihre harte Arbeit und ihren Schweiß. Ihr Gesicht wurde immer schnell rot. Ihr Leben und ihre Liebe waren universell. Wir nannten Heval Elefteria immer „Keça Koçera” – was „Nomadentochter” bedeutet – und sie freute sich darüber. Pflanzen, Blumen, Wasser und Früchte gibt es in Sêdarê, das für seine Früchte und sein kaltes Wasser bekannt ist, im Überfluss. Es ist wie ein Paradies. Heval Elefteria sagte immer, sie habe Glück gehabt, dass die GenossInnen sie in diese Region geschickt hätten. „Vielleicht wussten sie, dass ich die Natur so sehr liebe.” Ich würde sie daher als die wahrhaftigste Genossin der Natur bezeichnen.

    Wir können auch ihre kämpferische Persönlichkeit erwähnen. Wir wollten einige neue Berggipfel einnehmen. Früher hatten sich unsere GenossInnen auf diesen Berggipfeln positioniert, aber dann waren sie eine Zeit lang unbesetzt. Als der Krieg voranschritt, beschlossen wir, uns auf diesen Berggipfeln zur Vorbereitung erneut zu positionieren. Gipfel wie Barût und Polat sollten wieder besetzt werden. Als wir planten, uns auf Barut zu positionieren, stellten wir ein Team zusammen. Wir beschlossen, auch Heval Elefteria mitzuschicken, damit sie lernen und Erfahrungen sammeln konnte. Sie wusste bereits, wie man auf Drohnen reagiert, wie man sich bewegt, insbesondere alleine, wie man seine Position wechselt und sich mit Kameraden trifft. Sie war schon oft mit einem Kurier von einem Ort zum anderen gereist. Sie hatte ein Niveau erreicht, auf dem sie sich an das Guerillaleben anpassen konnte. Wir diskutierten mit den Kameraden, wen wir schicken sollten, und alle waren sich einig, dass wir sie schicken sollten. Wir wussten, dass sie es sonst nicht akzeptieren und rebellieren würde. Bei allen Treffen hätte sie gefragt: „Warum wurde ich nicht geschickt?“ Also war es sowohl für die Kameraden als auch für sie gut. Sie gab sich große Mühe und arbeitete lange Zeit. Heval Elefteria liebte die Natur sehr. Der Gipfel war sehr hoch, und die Atmosphäre dort veränderte sich für sie stark. Kurz bevor sie aufbrach, war sie sehr ernst, ihre Waffe frisch gereinigt und ihre Munition und andere Notwendigkeiten vorbereitet. Die GenossInnen bereiteten sich so gründlich vor, dass sie für eine Kriegssituation gerüstet waren. Die Atmosphäre war wirklich wie im Ausnahmezustand. Mit ihren Vorbereitungen war sie bereit für eine Operation. Sie erfüllte diese Rolle gut und trug ihre Tasche, ihre Waffe und ihren Munitionsgürtel.

    Angesichts all der Freude und Liebe, die sie uns schenkte, war es unmöglich, nicht davon berührt zu sein. Wir wussten, dass sie fliegen würde, wenn sie den Berggipfel erreicht. Mit den Klängen von „Tîlîlî” (Freudenschreien), Klatschen und Slogans machten sich die GenossInnen auf den Weg. Der Gipfel war nicht weit entfernt – vielleicht eine halbe Stunde bis vierzig Minuten. Die GenossInnen blieben auf dem Gipfel. Ich besuchte sie oft. Manchmal kamen sie für Schulungen, Unterricht oder Besprechungen herunter. Nachdem Heval Elefteria auf den Gipfel gegangen war, veränderte sie sich noch mehr. Es wurde unmöglich, sie vom Berggipfel wegzubekommen, weil sie ihn so sehr liebte. Als ich einmal die Genossinnen besuchte, suchte ich nach Heval Elefteria und fand sie dabei, wie sie Verteidigungsstellungen inspizierte. Wir hatten diese Gipfel schon zuvor genutzt, daher waren überall noch Munition und Vorräte versteckt. Überall, wo die Genossinnen einmal gewesen waren, konnte man noch Dinge finden, die sie zurückgelassen hatten.

    Heval Elefteria wollte die Gegend kennenlernen, also wanderte sie umher, um sie zu erkunden. Sie hatte ein gutes Verständnis für militärische Strategie. Einmal sagte sie zu Heval Viyan: „Wenn Angriffe stattfinden, wird dies unsere Verteidigungsposition sein.“ Das machte mich sehr glücklich. Ein Mensch, insbesondere eine Guerillakämpferin, muss einen Ort zur Selbstverteidigung auswählen, bevor sie irgendwo kämpfen geht. Das wesentliche Gebiet muss aufgrund seiner Verteidigungsmöglichkeiten ausgewählt werden. Heval Elefteria verstand das, und ich war zufrieden. Es ist ein Grund zur Freude, wenn eine Genossin in so kurzer Zeit zu dieser Erkenntnis gelangt. Heval Elefteria war voller Liebe für den Gipfel. Egal, was wir auch machten, sie blieb dort. Am Ende ging ich selbst zum Gipfel, um sie mit Mühe herunterzuholen, damit sie die GenossInnen in der Höhle bei ihren Aufgaben unterstützen konnte. Danach, ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, sie wollte zum Gipfel zurückkehren. Stattdessen brachten wir sie jedoch in die Höhlen, wo sie eine Weile blieb.

    Im Allgemeinen muss man nach einiger Zeit den Ort wechseln, an dem die GenossInnen arbeiten. Man bedenke beispielsweise die mentale Anstrengung, die erforderlich ist, um Höhlen und Tunnel zu bauen. Die GenossInnen bauten alle Tunnel selbst, und sie waren alle jung. Sie arbeiteten mit Sprengstoff, Bohrhämmern, Schaufeln und Spitzhacken. Einige bereiteten den Lehm vor, andere benutzten Schubkarren. Heval Elefteria leistete einen großen Beitrag zum Bau der Tunnel mit den GenossInnen und zur Gestaltung des Gemeinschaftslebens. Sie widmete all ihre Energie und Intelligenz dieser Aufgabe. Sie wollte verstehen und sah, dass das Guerillaleben sehr schwierig war, aber es war ihre Berufung. Sie war davon bewegt und wollte alles lernen, was sie konnte. Sie stellte immer Fragen, beteiligte sich an Diskussionen, teilte ihre Meinungen mit und machte Vorschläge. Sie war aufgeschlossen und flexibel, nicht dogmatisch. Nur manchmal war sie stur, was möglicherweise durch die deutsche Kultur beeinflusst war. Aber wir sahen das als positive Eigenschaft an.

    Wenn sie jedoch von etwas nicht überzeugt war, war es schwierig, ihre Meinung zu ändern. Sie war eine Kämpferin und Rebellin. Sie konnte große Anstrengungen ertragen. Ihr Märtyrertod war für uns sehr schwer zu verkraften. Die Organisation setzte große Hoffnungen in Heval Elefteria und verfolgte stets ihre Fortschritte. Alle Genossen erkundigten sich nach ihr und schickten Grüße. Jeder, der sie traf, erinnerte sich an sie; sie hatte einen Platz in ihren Herzen gefunden. Durch ihre Bemühungen entwickelte sie tiefe Bindungen zu den Genossen. Deshalb war ihr Märtyrertod so schwer für uns – für die Organisation, ihre Familie und alle GenossInnen, die sie kannten. Für uns gibt es jedoch keinen Unterschied zwischen GenossInnen, die ihr Leben für diese Revolution und diese Philosophie geben, egal ob sie KurdInnen sind oder aus anderen Nationen, aus dem Nahen Osten oder Europa stammen. Wir leben ein Leben, das sich um Ideen dreht, die uns aus aller Welt zusammenbringen. Wir treten mit Stolz in die Fußstapfen von Şehîd Elefteria, und noch heute sprechen wir über sie. Egal, wie sehr ich mich auch bemühe, ich kann gar nicht genug über die große Liebe von Heval Elefteria sagen. Ihre Wahrnehmung, ihr Verständnis und ihr Ausdruck waren etwas ganz Besonderes. Durch ihre Bemühungen, ihre Einstellung, ihren Glauben an den Wandel und ihr Handeln hat sie sich in dieser Revolution bewährt. Das ist es, was ich über Şehîd Elefteria sagen kann.

    Allen Genossinnen und Genossen, die in ihre Fußstapfen treten möchten, möchte ich sagen, dass sie für uns immernoch lebendig ist. Sie war eine Person, die ihre Heimat verlassen hat, Land und Meer überquert hat und für andere unterdrückte Gesellschaften gekämpft hat. Sie kam in die Berge, einen Ort, an dem Tausende von Genossinnen und Genossen Widerstand leisteten und den Märtyrertod starben. Es erfordert eine starke und aufopferungsvolle Haltung, um an diesen Orten zu kämpfen. Diese Genossin hat eine so lange Reise auf sich genommen, um gegen Unterdrückung zu kämpfen und Freiheit zu erlangen. Für mich ist das die wertvollste Haltung der Welt. Wir sagen, dass alle MärtyrerInnen unser Licht sind. Heval Elefteria ist eine von ihnen. Es ist wichtig für alle Genossinnen und Genossen, die sie kannten – in Deutschland oder anderswo –, über ihre Haltung während der Rojava-Revolution und ihren Kampf in den Bergen zu erfahren. Sie müssen etwas über ihren Willen, ihre Überzeugung und ihren Glauben lernen, um ihr Vermächtnis weiterzuführen. Ich halte dies für einen sehr wichtigen Punkt.

    Heval Elefteria ist ein Vorbild für uns alle – nicht nur für kurdische Frauen, sondern auch für deutsche Frauen und Frauen auf der ganzen Welt. Sie war eine Vorreiterin für uns alle. Sie war eine wirklich schöne Frau. Wenn man sie ansah und ihr Lächeln sah, konnte man ihre innere und äußere Schönheit erkennen. So schön sie äußerlich war, so schön waren auch ihre Gedanken. Ihre Gedanken und ihre Seele waren eins. Das kann ich über sie erzählen. Natürlich haben wir einige gemeinsame Erinnerungen, aber viele Jahre sind vergangen. Je mehr man darüber spricht, desto lebendiger werden sie. Für jetzt kann ich diese Erinnerungen teilen.

  • Junge Frauen und Selbstverteidigung

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  • Wir, Frauen – Ulrike Meinhof

    Wir, Frauen – Ulrike Meinhof

    Der Sprung ins Ungewisse

    Westberlin am 14. Mai 1970, 9:45 Uhr. Ulrike Meinhof sitzt im Lesesaal des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen. Der politische Gefangene Andreas Baader wird in Handschellen von zwei Wachtmeistern in den Raum geleitet. Sie werden sich dort für etwa 75 Minuten mit der Journalistin Ulrike Meinhof über ein geplantes Buchprojekt austauschen. Sie sichten Zeitschriften und schreiben Notizen. Gegen 11 Uhr stürmen drei bewaffnete Genossen mit „Hände hoch oder wir schießen“-Rufen das Institut. Schüsse werden ausgetauscht. Alle an der Befreiungsaktion Beteiligten, Andreas Baader und Ulrike Meinhof springen aus einem 1,5m hohem Fenster und laufen zu einem vorher abgestellten Alfa Romeo. Die Rote Armee Fraktion ist geboren. Jahrzehnte später werden wir erfahren, dass Ulrike Meinhof spontan mit aus dem Fenster sprang. Ursprünglich geplant sei gewesen, dass Meinhof sitzen bleibt und später, ohne selbst in die Illegalität zu gehen, über die Aktion berichten kann.

    Was bringt eine erfolgreiche Journalistin und Mutter dazu, von einem Moment auf den anderen ihr bekanntes Leben hinter sich zu lassen?

    Aber vielleicht andersrum gefragt: Was hätte sie davon abhalten können?

    Es gab keine andere Option. Denn wohin hätte sie überhaupt zurückgehen sollen?

    Sie schrieb sich die Finger wund mit scharfsinnigen Analysen über imperialistische Kriegstreiberei, die konsequent inkonsequente Aufarbeitung des Holocausts und die doppelte Ausbeutung der Frau als Mutter und Arbeitskraft.

    Und doch war sie selbst immer noch Teil davon; immer noch ausgegrenzte Mutter, immer noch ausgebeutete Arbeiterin, immer noch Teil des mörderischen Systems.

    Es ging nicht anders; unerträglich war ihr das bis dato Ertragene geworden.

    Sie sah die Bullen schießen und ihre Freunde springen.

    Und in diesem Moment, mit diesem Sprung, gab sie sich selbst ein Versprechen.

    Ein Versprechen, dass sie nicht so einfach hätte brechen können, ohne gleichzeitig ihre Werten zu verraten.

    Und obwohl sie ab diesem Moment nicht mehr mit Sicherheit sagen konnte, was sie erwartete,

    wagte sie gewiss den Sprung ins Ungewisse.

    Sie weckte sich selbst auf, um ein neues Leben zu verteidigen.

    Dieser eine Sprung nach vorne, sagt nicht nur, dass es kein zurück mehr gibt.

    Der 14. Mai 1970 war nicht nur der Tag der Befreiung von Andreas Baader.

    Nicht nur die Geburtsstunde der RAF.

    Wenn wir diesem Tag und diesem Sprung die richtige Bedeutung geben, war er der Bruch mit dem System, der allen die Augen öffnen sollte.

    Springen wir noch einmal zurück. Westdeutschland, am 7. Oktober 1934. Ulrike Meinhof wird in Oldenburg geboren. Sie war während des zweiten Weltkriegs ein Kind. In ihren Texten liest sich die Fassungslosigkeit darüber, was für einen Krieg Deutschland geführt hat und wie es danach einfach weitergeht, wie Nazis in anderen Farben die gleichen Posten bekleiden.

    Sie wächst während des zweiten Weltkriegs auf und ist in der Nachkriegszeit Jugendliche. Die gesamte deutsche Nation ist völlig verstört darüber, verloren zu haben, also den Krieg und dermaßen an Menschlichkeit verloren zu haben, dass ein solcher faschistischer Vernichtungsapparat entstanden ist. Sie war zu Kriegszeiten viel zu klein, sicher hat sie selbst kein Unrecht verursacht, das im direkten Zusammenhang mit der systematischen Auslöschung von Millionen von Menschen steht. Die faschistische Ideologie durchdringt aber die Gesellschaft und wenn man sich nicht dagegen wehrt, wird man von ihr beeinflusst. Ihr eigener Vater war auch Mitglied der NSDAP und auch wenn sie nicht viel Zeit miteinander verbracht haben, muss das erschreckend sein. Die Gleichgültigkeit dieser Zeit war erdrückend, der Unwille, den deutschen Faschismus zu beenden oder wenigstens aufzuarbeiten, lähmend.

    Sie hat sich aber eben nicht von der Geschichte abgetrennt gesehen, der Faschismus in Deutschland ist eben nicht über Nacht gekommen und wurde vom Großteil der Gesellschaft einfach hingenommen. Die deutsche Gesellschaft hat die Plakate gesehen auf denen stand «Jude, stirb» und weiter Hitler gewählt.

    Ulrike politisiert sich in der Nachkriegszeit, gegen Krieg und ganz praktisch in Verbindung mit allen Völkern, geht nach Jordanien ins Ausbildungslager1, schreibt für den Iran, spricht für den Vietnam. Sie sieht ihre Generation in der direkten Verantwortung. Sie beharrt darauf, dass ihre Generation unschuldig ist, klar, aber das reicht nicht.

    Sie trägt eine Schwere in sich. Unsere Vergangenheit lastet auf uns, und der Faschismus um uns herum droht, uns die Luft zum Atmen zu nehmen. Ulrike Meinhof schreibt zu einer Zeit in der Kiesinger Bundeskanzler war. Der hat die Verjährung von NS-Verbrechen vorangetrieben, damit die NS-Verbrecher, also seine langjährigen Parteigenossen, nicht vor Gericht kommen.

    Diese Schwere und dieses Leid haben sie sicher auch zum Handeln angetrieben. Gleichzeitig aus einem Gefühl von Ungerechtigkeit und aus der rationalen Überlegung: Was ist notwendig gerade?

    Ulrike Meinhof hatte zwei kleine Töchter. Mutter sein hat ihr viel bedeutet. Sie hat sich vehement gegen autoritäre Kindererziehung gewehrt, ihre Töchter extra aus der staatlichen Schule herausgenommen. Sie spricht auch darüber, was es bedeutet, alleinerziehende Mutter zu sein. Ihre Artikel über die Lage von arbeitenden Frauen und Müttern sind wissenschaftlich fundiert, gut recherchiert. Sie hat die Situation von Frauen durchschaut und auf vielseitige Art und Weise gekämpft, viel geschrieben, auch Vorträge gehalten. Wenn Frauen sich ihrer Lage nicht bewusst waren, hat sie das fürchterlich wütend gemacht.

    Sie hat dabei nicht gehandelt ohne ihre eigene Realität zu vergessen, ohne für ihre eigene Situation blind zu werden. Als sie ihre Kinder auf Sizilien untergebracht hat, damit sie nicht in die Sorge ihres Vaters kommen, war das eine schwere Entscheidung für sie. Sie hat mit sich gerungen, aber die Notwendigkeit, radikale Schritte zu gehen, als größer angesehen, als ihr Familienglück. Für ihre Kinder war das sicher schwer, und damit für sie auch, weil sie sie geliebt hat. Als alleinerziehende Mutter politisch zu arbeiten ist schwer, unheimlich schwer, sagt sie.

    Also ist das Problem aller politisch arbeitenden Frauen, mein eigenes inklusive, dieses, dass sie auf der einen Seite gesellschaftlich notwendige Arbeit machen, den Kopf voll richtiger Sachen haben, dass sie eventuell sogar wirklich reden und schreiben und agitieren können, aber auf der anderen Seite mit ihren Kindern genau so hilflos dasitzen wie alle anderen Frauen auch.“

    Sie war federführend in einer Kampagne, die gegen die Situation von Heimkindern in den 60er Jahren gekämpft hat. Besonders die Situation der jungen Frauen hat sie sehr mitgenommen. In dem, was sie schreibt, sehen wir durch ihre Augen die Situation der Frau. Diese Heime waren kein zu Hause für diese jungen Frauen, sondern Gefängnisse. Kinder groß zu ziehen und zu arbeiten, politisch zu arbeiten ist unheimlich schwer. Sie schaut ihre eigenen Kinder an und alle Kinder der Welt und wandelt ihr Wut in Rache um. Sie hat ihr eigenes Leben als Mutter und die globale Situationen aller Mütter und aller Frauen eben nie getrennt gesehen.

    Wenn man so will ist das die zentrale Unterdrückung der Frau, dass man ihr Privatleben als Privatleben in Gegensatz stellt zu irgendeinem politischen Leben. Wobei man umgekehrt sagen kann wenn die politische Arbeit nicht irgendwas zu tun hat mit dem Privatleben stimmt sie nicht, da ist sie perspektivisch nicht durchzuhalten.“


    Sie hat sich in der Verantwortung gesehen, zu handeln. So wie Ulrike Meinhof gesagt hat, eines Tages werden sie nach Herrn Strauss2 fragen so wie wir unsere Eltern jetzt nach Hitler fragen. Wir gehen ihren Weg weiter. Wenn die Generationen nach uns nach Trump, Merz, Erdoğan, Netanyahu fragen, was haben wir dem entgegenzusetzen?

    Wenn uns die Generationen nach uns fragen, was haben wir gemacht, um die Wege dieser Revolutionärinnen weiterzugehen. Was haben wir gemacht, um den Tod von Ulrike Meinhof zu rächen, die vom deutschen Staat gefoltert und ermordet wurde, eben weil sie widerständig geblieben ist. Und ganz besonders, weil sie eine Frau war.

    Was sagen wir dann? Wann springst du?

    Protest ist, wenn ich sage, das und das passt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, dass das, was mir nicht passt, nicht länger geschieht. Protest ist, wenn ich sage, ich mache nicht mehr mit. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, dass alle andern auch nicht mehr mitmachen.«

    11970 organisierte sich die PLO (Palestinische Befreiungsorganisation) in Jordanien. Sie kämpfte im jordanischen Bürgerkrieg mit verbündeten revolutionären Gruppen gegen das jordanische Regime. Zu dieser Zeit war der Mittlere Osten im Generellen ein Internationalistisches Zentrum. Viele RevolutionärInnen aus aller Welt lernten von den Bewegungen dort.

    2Ein deutscher konservativer Politiker, der während des 2. Weltkriegs in der Wehrmacht gedient und an mehreren Massakern an JüdInnen beteiligt war.

Young Internationalist Women